Liebe Leser:innen,
nach längerer Zeit hat sich wieder einmal jemand getraut: Philippe Narval schrieb am 24.03.2025 im Standard den Kommentar „Schafft endlich die Sonderschulen ab“ . Und es kam, wie es immer kommt: Nach wenigen Minuten war im Forum die Hölle los. Die bekannten Fronten meldeten sich zu Wort: Überzeugungstäter:innen von beiden Seiten, überforderte Lehrer:innen, vermutlich auch ein paar Lehrergewerkschafter:innen. Der Tenor: „Das geht nicht, weil …“
Und auch ich habe mich hinreißen lassen, meinen altbekannten Senf dazuzugeben:
JA, ich bin davon überzeugt, dass inklusive Bildung funktionieren kann.
JA, Inklusion ist ein Menschenrecht.
Und NEIN, was wir meinen, wenn wir von Inklusion sprechen, ist nicht, Kinder mit Behinderungen einfach in den bestehenden Schulwahnsinn dazuzusetzen.
Das ist Nixklusion – und kann nicht funktionieren.
Was wir uns vorstellen, ist eine neue Form gemeinsamer Bildung: Eine, die das Kind in den Mittelpunkt stellt. Eine mit Kleingruppen, wenn es nötig ist. Mit Assistenz, mit multiprofessionellen Teams, mit echter Haltung. Eine Schule, die aktiv eine inklusive Gesellschaft mitgestaltet. Eine, die Diskriminierungen wahrnimmt und diese aktiv bekämpft. Eine, in der Kinder mit und ohne Behinderungen ganz selbstverständlich gemeinsam aufwachsen dürfen.
Warum diese Debatte so schwierig ist
Wie das so ist: Es dauerte auch diesmal nicht lange, bis ich in den Kommentaren auf andere Eltern von Kindern mit Behinderungen traf. Und wie das so ist: Es dauerte auch nicht lange, bis sich jemand von meinen „radikalen Positionen“ persönlich angegriffen fühlte. Frei nach dem Motto: "DU GREIFST MICH AN!“ Leider nicht meine erste Erfahrung in diese Richtung und leider eine Erfahrung, die ich nicht "nur" im digitlen Raum machen musste. Ich frage mich dann immer: Warum schmerzt Systemkritik oft so persönlich? Ich tue mich mit solchen Diskussionssituationen oft schwer – und habe mir diesmal etwas ausführlicher Gedanken dazu gemacht.
Wie hinlänglich bekannt ist, bin ich als Obfrau des Vereins Integration Tirol, als Mutter eines inklusiv beschulten Kindes mit hohem Unterstützungsbedarf und als Lehrerin begeisterte Befürworterin der inklusiven Bildung.
Gleichzeitig: Wenn zu mir jemand sagt, Inklusion – so wie sie gemacht wird – habe Schwächen, stimme ich dem zu. Nie würde ich aber auf die Idee kommen, eine ablehnende Haltung gegenüber Inklusion als Angriff auf mich oder mein Kind zu verstehen. Ich bin ja nicht die inklusive Schule.
Umgekehrt ist das oft anders.
In Gesprächen mit Eltern, deren Kinder eine Sonderschule besuchen, ist es nahezu unmöglich, die negativen Seiten der Segregation anzusprechen, ohne dass sich Eltern sofort persönlich angegriffen fühlen. Warum ist das so?
Warum die "Wahlfreiheit" Schuldgefühle erzeugt
Meine Idee: Die sogenannte „Wahlfreiheit“ ist eine Ursache dafür.
Von Politiker:innen immer wieder als höchstes Gut gepriesen, hat sie – neben der Tatsache, dass hier das „Recht der Eltern“ mit dem Recht des Kindes auf Teilhabe kollidiert – noch einen weiteren Nebeneffekt: Sie spaltet. Sie schafft Elterndivision.
Hat man sich – wohlüberlegt – dazu durchgerungen, das eigene Kind in einer Sonderschule von der „bösen Gesellschaft“ abzuschirmen, dann identifiziert man sich zwangsläufig mit der gewählten Institution.
Wie meine ich das konkret?
- Wenn Eltern das Gefühl haben, sie mussten eine Entscheidung treffen – und zwar gegen ein gesellschaftliches Ideal wie Inklusion –, wird diese Entscheidung schnell Teil der eigenen Identität. Kritik an der gewählten Institution wird dann wie Kritik an der eigenen Elternrolle verstanden.
- Die Möglichkeit zu wählen führt nicht nur zur Identifikation mit dem Gewählten, sondern auch zu einem inneren Druck, diese Wahl im Nachhinein zu verteidigen. Wer sich für die Sonderschule entscheidet – obwohl überall von Inklusion die Rede ist (viel zu oft nur die Rede – von gelebter Praxis sind wir vielerorts noch Lichtjahre entfernt) – und obwohl sie klar als Menschenrecht festgeschrieben ist, lebt mit einem latenten Rechtfertigungsdruck. Jede Kritik an segregierenden Systemen fühlt sich dann an wie ein moralischer Zeigefinger: Du hast dich gegen das Gute entschieden. Du sonderst dein Kind ab. (Und eben nicht: Du bist Opfer eines zutiefst ableistischen Systems.)
Ab diesem Punkt wird nicht mehr über Systeme gesprochen, sondern über Schuld, Identität und Zugehörigkeit. - Oft wird Wahlfreiheit suggeriert, wo de facto strukturelle Zwänge herrschen. Eltern wählen die Sonderschule nicht im luftleeren Raum, sondern unter Druck: fehlende Unterstützung, fehlende Barrierefreiheit, Ängste, Überforderung. Als ehemalige Touristikerin fasse ich das gern so zusammen: All-Inclusive-Aussonderung vs. Inklusion in Selbstverpflegung. Die Erzählung von der „selbstbestimmten Wahl“ verdeckt einerseits, welch grausame Wahl uns da zugemutet wird – nämlich oft eine zwischen zwei Mängelsystemen. Sie verschleiert andererseits die systemischen Zwänge an sich. Eine gesellschaftliche Aufgabe wird so zu einem individuellen Problem verklärt. Damit berührt Kritik ein Dilemma, das man auf individueller Ebene eigentlich nicht lösen kann – angeblich aber doch mit einer persönlichen Entscheidung lösen soll.
Man kann hier aber gar nicht richtig entscheiden. Egal, wie man sich entscheidet: Die Entscheidung wird irgendwann „Schmerz“ am eigenen Kind verursachen. Sich selbst dieses Ausgeliefertsein einzugestehen, tut weh. Und es ist nur allzu verständlich, dass man nicht möchte, dass jemand mit seiner Kritik in diesen offenen Wunden stochert. - Wenn ein Elternteil erlebt, dass das eigene Kind in der Sonderschule endlich willkommen ist, endlich angenommen wird – weil es dort nicht mehr aneckt, nicht ständig kämpfen muss, nicht als Störfaktor vorgeführt wird – und man selbst als Elternteil endlich eine Community findet, die ähnliche Erfahrungsräume teilt (alles Erfahrungen, die für uns nicht selbstverständlich sind), dann wird dieser Ort zum Schutzraum.
Natürlich darf man fragen: Was sagt das über unser Bildungssystem aus, wenn man Menschen vor ihm „schützen“ muss?
Gleichzeitig ist aber klar: Wer diesen Schutzraum kritisiert, stellt ein emotionales, oft hart erkämpftes Sicherheitsgefühl infrage. Hier geht es um erlebte Kränkungen, um zutiefst persönliche Emotionen, um Angst. Ab da lässt sich kaum noch distanziert diskutieren. Ich verstehe das.
Ich bin nicht die Schule meines Sohnes. Ich bin nicht einmal meine Schule. Ich arbeite dort.
Mein Zugang ist: Ich stehe hinter der Idee der inklusiven Bildung – und ich versuche sie jeden Tag in meinem Wirkungsbereich umzusetzen. Als Mama, als mitwirkendes Elternteil und als Lehrerin.
Ich stehe für das Versuchen, Bildung gelingen zu lassen – ganz praxisorientiert, täglich.
Aber ich stehe nicht für eine Institution.
Mache ich als Mutter Fehler? Ja - täglich.
Mache ich als Lehrerin Fehler? Ja – täglich.
Macht meine Schule Fehler? Ja – täglich.
Macht die Bildungsdirektion Fehler? Ja – täglich.
Das ist nicht illoyal – das ist ehrlich.
Wenn man sich aber in einem unsicheren System befindet, Angst hat, negative Erfahrungen gemacht hat oder sich schlicht kein Gelingen vorstellen kann – und sich deshalb bewusst für eine Institution entscheidet –, dann wird diese Institution Teil der eigenen (Eltern-)Identität.
Und ab da wird jede Kritik am System persönlich.
Dann wird Debatte unmöglich.
Wie kommen wir da raus?
Vorweg: Wen auch immer ich in diesem Zusammenhang schon einmal gekränkt habe – es tut mir ehrlich leid.
Ich glaube an etwas Größeres. Ich will nicht gegen euch, sondern mit euch für eine inklusive Gesellschaft kämpfen.
Und ich bin überzeugt: Egal, ob dein Kind eine Sonderschule besucht oder inklusiv beschult wird – wir haben mehr gemeinsame Erfahrungen, als uns lieb ist: Erfahrungen mit Überforderung. Mit Barrieren. Mit Ignoranz.
In diesem Sinne: Unsere Kinder und wir wurden mit unseren Anliegen viel zu oft nicht gesehen. Viel zu oft hat die Politik für uns keine passenden Lösungen geschaffen. Viel zu oft kämpfen wir in diesem Gesellschaftssystem um Platz und Teilhabe.
Vielleicht wird so klarer:
Wir sind keine Gegner – wir haben die gleichen Gegner.
Und vielleicht kann genau diese Einsicht helfen, einander besser zu verstehen und genauer hinzuhören.